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„Welche Sehenswürdigkeiten rund um Blansko können Sie uns denn empfehlen?“

„Oh, es gibt viele tolle touristische Ausflugsziele“, entgegnete der groß gewachsene Mann, der uns im Zug von Brno nach Norden gegenübersaß, und rückte seine Brille zurecht. „Da ist natürlich der Mährische Karst mit seinen Höhlen: Die Katharinahöhle, die Sloup-Sosuvske-Höhlen und die Balcarka-Höhle sind die bekannteren von ihnen. Und die Macocha-Schlucht sollte man sich nicht entgehen lassen. Sie ist 138 Meter tief, wissen Sie?“

Das wusste ich natürlich nicht. Genau aus diesem Grund versuchte ich ja auch, diesem Mann, einem ehemaligen tschechischen Staatsbürger, der zur Hochzeit seines Bruders in die Heimat zurückgekehrt und des Englischen mächtig war, Informationen über die Region zu entlocken.

Roxy sah von ihrem Book-of-Secrets-Roman auf, den ich vor der Reise selbst noch einmal heimlich gelesen hatte -heimlich, weil ich nicht wollte, dass Roxy auf die Idee kam, ich würde das fiktionale Werk ebenso wie sie für einen Reiseführer halten.

„Eine Schlucht? Da gibt es eine Schlucht? Ist sie finster und geheimnisvoll und unendlich tief? Und sind da unten vielleicht Dinge verborgen, von denen wir nie erfahren werden, weil bisher noch nie einer von dort wiedergekommen ist?“

„Ignorieren Sie sie einfach“, sagte ich zu dem Mann und seiner Begleiterin.

„Sie liest keine Reiseführer, sie lässt sich lieber überraschen.“ Ich nahm mein Buch über die Region zur Hand und blätterte darin, bis ich die Schlucht fand.

„Die Macocha-Schlucht ist eine berühmte geologische Formation“, erklärte ich Roxy, „und wie man auf dem Bild sieht, ist sie kein bisschen finster und geheimnisvoll. Es gibt einen Pfad, auf dem man hinunterwandern kann bis zur Punkva-Höhle.“

„Oh“, sagte Roxy enttäuscht. Sie schaute aus dem Fenster und betrachtete die waldreiche Landschaft, die immer bergiger wurde, je weiter wir Richtung Blansko ins mittelmährische Hügelland vordrangen.

Weil ich vorher in die Karte geschaut hatte, wusste ich, dass das Drahaner Schloss in der Nähe von Blansko irgendwo in den mährischen Wäldern versteckt war.

„Höhlen sind cool, aber was hatten Sie gerade noch erwähnt?“, fragte ich. Der Mann sah mich verwirrt an.

„Ich glaube, sie will wissen, was ein Karst ist, Martin.“

Ich nickte Martins Frau zu, einer lebhaften blonden Amerikanerin namens Holly. „Ja, genau! Ich habe keine Ahnung, was ein Karst ist.“

„Ah“, machte Martin lächelnd und rieb sich die Hände. Wie sich herausstellte, hatte ich genau den Richtigen gefragt, denn Martin war Geophysiker, und er erzählte mir mehr über die Schluchten, Klüfte und über vierhundert kleinen und großen Höhlen in dieser Region, als ich eigentlich wissen wollte.

Selbst Roxy hörte auf zu lesen und lauschte aufmerksam, als er einige der spektakulärsten Höhlen beschrieb, durch die unterirdische Flüsse führten.

Ich suchte in meinem Reiseführer nach Informationen über die Höhlen, die für Besucher geöffnet waren.

„Interessant.“ Ich versuchte lächelnd, den Informationsfluss über die biochemische Zusammensetzung von Kalkstein und ihre Auswirkungen auf den Grundwasserspiegel zu stoppen.

„Was ist mit dem Schloss?“, wollte Roxy wissen.

„Ach ja, das Schloss. Drahany heißt es. Sehr beeindruckend, aber leider nicht öffentlich zugänglich, denn es ist in Privatbesitz. Doch die Gärten sind sehr hübsch und das ganze Jahr geöffnet. Die sollten Sie sich ansehen, denn die Skulpturen darin sind von Schweigl.“

Ich riss beeindruckt die Augen auf - nach dem Motto: „Nein! Sagen Sie bloß!

Von Schweigl?“ - und hoffte, dass unsere unerschöpfliche Informationsquelle sich nicht auch noch über die chemische Zusammensetzung des Erdreichs in den mit Schweigl-Skulpturen geschmückten Gärten ausließ.

„Das Schloss selbst ist natürlich aus Kalkstein.“

„Natürlich“, sagte ich rasch und ging zur nächsten Frage über, bevor Martin zu diesem Thema ausholen konnte. „Meine Freundin interessiert sich für die Folklore dieser Region, die sehr reich an altem Brauchtum und volkstümlichen Überlieferungen sein soll.“

„Ja, das ist sie allerdings“, antwortete Holly für Martin. „Sehr reich. Sie müssen wissen, dass Mähren jahrhundertelang ein eigenständiges Reich war und eine faszinierende Geschichte hat. Viele Elemente des Volksglaubens haben ihren Ursprung in finsteren Zeiten.“

Sie musste die Blicke bemerkt haben, die Roxy und ich wechselten, denn sie lachte und erklärte: „Ich habe einen Magister in Osteuropäischer Geschichte.

So habe ich Martin kennengelernt - ich studierte an der Universität von Ostrava, als er seinen Abschluss in Metallurgie gemacht hat. Diese Region ist eine wahre Fundgrube für folkloristisch Interessierte.

Hier gibt es alles, von alten Rittersagen bis hin zu den klassischen Märchen mit Prinzessinnen und verwunschenen Prinzen.“

„Faszinierend“, sagte Roxy und beugte sich vor.

„Darüber wüsste ich gern mehr. Das mit dem Ursprung in finsteren Zeiten klingt ja spannend - meinen Sie Horrorgeschichten? Von Hexenverbrennungen und so weiter?“

„Oh nein, da muss man noch weiter zurückgehen“, sagte Holly lachend.

„Angeblich - aber das ist nur ein alter Volksglaube - steht diese Region gleich hinter Transsilvanien an zweiter Stelle, was übernatürliche Wesen angeht.

Vampire und Totenbeschwörer, Geheimbünde, die Blutopfer darbringen, Gestaltwandler, verfluchte Familien, jahrhundertealte Fehden zwischen Familien mit scheinbar diabolischen Kräften und so weiter.“

„Blödsinn“, schnaubte Martin und zog eine Prager Zeitung aus der Tasche.

„Ich bin dreißig Kilometer weiter aufgewachsen und diese Geschichten wurden doch nur erzählt, damit kleine Kinder nicht allein im Dunklen durch den Wald laufen.“

„Ja, natürlich, alles Blödsinn.“ Ich strahlte die beiden an und zwickte Roxy in den Arm, um zu verhindern, dass sie etwas anderes sagte. Sie sah mich wütend an und rieb sich die schmerzende Stelle, hielt aber den Mund, während ich das Gespräch auf weniger interessante Themen lenkte.

Eine Stunde später erreichten wir unser Ziel, das

„lebendige Marktstädtchen Blansko“, wie der Reiseführer es nannte. Ich sah mich neugierig um.

„So lebendig ist es nun auch wieder nicht“, bemerkte Roxy missmutig, warf sich den Tragegurt ihrer Reisetasche über die Schulter und griff nach den anderen beiden Taschen. „Hier ist ja so gut wie gar nichts los! Es gibt nicht mal einen Gepäckträger oder sonst irgendjemand, den man bestechen könnte, damit er unser Zeug schleppt. Wo sind wir hier nur gelandet?“

„Du hast es so gewollt, meine Liebe, also hör auf zu jammern! Wenn du nicht darauf beharrt hättest, drei Taschen mitzunehmen, brauchtest du jetzt niemanden, der dir deinen Krempel hinterherträgt.“

Glücklicherweise gab es ein Taxi in dem Städtchen, doch das war gerade mit jemand anderem unterwegs. Ich sprach ein paar Minuten mit dem Bahnhofsvorsteher, so gut es mein Highschool-Deutsch erlaubte, dann ging ich wieder zu Roxy, die am Taxistand auf ihrem Gepäckberg saß. Sie stand auf, um sich die Plakate an der Bahnhofsmauer anzusehen: Kneipenkonzerte örtlicher Bands, Gebäudereinigungsfirmen, Führungen durch die diversen Höhlen und so weiter.

„Honza, der Bahnhofsvorsteher, hat gesagt, das Taxi ist in fünfzehn Minuten wieder da. Wenn wir hier warten und uns eng aneinanderkuscheln, dann brauchen wir das Gepäck nicht den ganzen Berg hochzuschleppen. Brrr, ziemlich kalt hier draußen, nicht. .“

„Oh mein Gott! Joy, komm her!“

„Was ist?“

Roxy hüpfte aufgeregt auf der Stelle und winkte mich zu sich. Ihr Atem bildete weiße Wölkchen vor ihrem Mund. „Das wirst du nicht glauben! Guck doch mal! Komm her und lies das hier und sag mir, dass Miranda das nicht vorausgesehen hat!“

„Was ist denn?“, fragte ich wieder und näherte mich misstrauisch einem großen schwarz-roten Plakat.

„Es hat doch wohl nichts mit irren Axtmördern zu tun, oder?“

„Jetzt komm schon und lies das! Ach, wie herrlich!

Da werden wir was erleben!“ Sie drehte sich vor Begeisterung im Kreis, dass die Fransen an ihrer Jacke nur so flogen.

„Ich wusste es, ich wusste es!“, sang sie vor sich hin. Ich schaute mich verstohlen um und hoffte, dass uns niemand zusah. Ich war bereit, mich sofort von Roxy zu distanzieren, wenn sie sich mitten in einem fremden Land weiter wie eine Idiotin aufführte.

„Lies das!“, schrie sie wieder und zeigte auf das Plakat.

„Nur, wenn du mit diesem Theater aufhörst!“

„Lies es endlich!“

Ich begann zu lesen. Das Plakat war auf Englisch, Deutsch und Französisch.

GROSSER GOTHIC-MARKT! stand dort in fetten roten Buchstaben.

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„Klingt nach einer Art Jahrmarkt, wie so ein mittelalterlicher Markt, nur für die Gothic-Szene. Was ist daran so toll? Da willst du doch wohl nicht hingehen oder?“

„Lies mal ganz unten!“, rief Roxy ausgelassen und tanzte um unser Gepäck herum. „Lies mal ganz unten, ganz unten!“

„Du gehörst echt in Behandlung!“, murmelte ich, bevor ich mich vorbeugte und das Kleingedruckte las.

ZUM ABSCHLUSS DES GOTHIC-MARKTS

FINDET AM 31. OKTOBER DAS GROSSE HAL-

LOWEEN-VAMPIRFESTIVAL AUF SCHLOSS

DRAHANY BEI BLANSKO STATT. TICKETS

ERHÄLTLICH BEI ..

„Grundgütiger!“ Das hatte mir gerade noch gefehlt - eine große Party zur Feier eines fiktiven Vampirkults. Es genügte offenbar noch nicht, dass Roxy vorhatte, jeden Abend Jagd auf Vampire zu machen, die möglicherweise auf ihren Beutezügen durch den Ort streiften - nein, jetzt würde sie mich auch noch auf einen Gruselmarkt und ein Fest mit pickeligen Teenagern schleppen, die alle auf dem Grufti-Trip waren. „Nein, nein, nein“, stöhnte ich.

„Ja, ja, ja“, jubilierte Roxy und hüpfte vor mir her.

„Siehst du? Glaubst du jetzt an Mirandas Fähigkeiten? Sie hat gesagt, du würdest einem Vampir begegnen, und jetzt sieh dir das an! Es wird einen ganzen Markt geben, der voll von ihnen ist - ganz zu schweigen von denen, die wir auf dem Festival treffen!“

„Mensch, um Himmels willen, Rox, es gibt keine Vampire!“

Meine Worte stießen auf taube Ohren, aber bevor ich Roxy Vernunft einprügeln konnte, hielt ein kleiner ramponierter blauer Peugeot mit quietschenden Reifen vor uns an, der aussah, als hätte er schon mehrere Kriege hinter sich. Ich packte Roxy am Arm und schob sie zum Auto. „Das Taxi ist da! Lad die Taschen ein, während ich dem Fahrer sage, in welches Hotel wir wollen. Und hör in Gottes Namen auf, so herumzutanzen! Willst du, dass die hier glauben, die Amerikaner wären alle geistesgestört?“

Das Hotel Dukla war nicht weit vom Bahnhof entfernt, aber es lag ganz oben auf einem steilen Berg am Stadtrand. Eine halbe Stunde nach unserer Ankunft in Blansko hatten wir bereits eingecheckt, unser Gepäck über drei steile Treppen mit ausgetretenen Stufen auf unsere Dachzimmer geschleppt und unsere zerknitterte Reisekleidung gegen etwas Ordentlicheres ausgetauscht.

Roxy war zuerst im Gemeinschaftsbad und ich musste warten, bis sie fertig war, bevor ich mich waschen konnte.

„Bis gleich, unten in der Schänke!“, rief sie mir ein paar Minuten später zu und eilte die Treppe hinunter. Ich verzog das Gesicht, als ich hörte, wie unvorsichtig sie über die krummen Stufen polterte, und hoffte, dass sie sich nicht das Genick brach. Rasch brachte ich mich in einen präsentablen Zustand, um der einheimischen Bevölkerung gegenüberzutreten.

Ich wollte aussehen wie Audrey Hepburn: kultiviert, elegant und makellos. Ich packte vorsichtig mein langes schwarzes Samtkleid aus, das mich schlank machte, steckte meine mattbraunen Haare hoch, die eine Friseurin einmal freundlicherweise als kastanienbraun bezeichnet hatte, und legte etwas Parfüm auf.

„Ziemlich weit weg von Audrey Hepburn.“ Ich rümpfte die Nase, als ich mich in dem kleinen Spiegel betrachtete, der über einer Eichenkommode hing.

„Aber das muss reichen!“

 

Ich weiß gar nicht, wie ich mir die Gäste der Hotelschänke - laut dem stolzen Hotelbesitzer die beliebteste Kneipe der Stadt - eigentlich vorgestellt hatte, aber was ich vorfand, entsprach auf keinen Fall meinen Erwartungen. Ich hatte an jede Menge Leute mit Tweedhüten und Dirndln und so weiter gedacht, doch in dem niedrigen Raum mit der dunklen Holzdecke war nicht viel los. Die wenigen Leute, die sich dort aufhielten, trugen meist Jeans und Pullover und es war weit und breit kein Dirndl zu sehen. Auf der gegenüberliegenden Seite des Raums lag hinter zwei großen Fenstern, die vom Boden bis zur Decke reichten, ein Balkon mit Ausblick auf eine Wiese und die dahinter aufragenden Berge. Durch die Wipfel der Bäume draußen konnte ich einen Turm des Drahaner Schlosses erkennen. Der Himmel wurde allmählich indigoblau, was sehr gut mit der violetten Färbung der Berge hinter der Stadt harmonierte. Die verschiedenen Blau-, Schwarz- und Violetttöne erzeugten eine Stimmung, die mich tief im Inneren berührte. Doch bevor ich ans Fenster treten konnte, um die Landschaft zu betrachten, wurde ich lautstark begrüßt.

Roxy rief mich an einen langen Tisch, der zu meiner Linken an der Wand stand. Sie saß in der Tischmitte zwischen zwei Frauen. Zumindest glaubte ich, dass es Frauen waren -es hätten auch Transvestiten sein können. Das war schwer zu sagen, denn sie hatten jede Menge Make-up im Gesicht, schwarzen Kajal um die Augen und trugen knallroten Lippenstift, der ihre Münder auf scharfkantige gerade Schlitze reduzierte. Dazu waren sie gleich gekleidet: schwarze Vinylkorsetts über roten Chiffonblusen. Ihre Beine waren zwar unter dem dicken, blank geschrubbten Holztisch verborgen, aber ich vermutete, dass sie spitze schwarze Lederstiefel mit hohen Absätzen und ganz kurze Miniröcke mit Strapsen trugen, was so viele junge Frauen für sexy hielten.

„Verdammt, jetzt hat sie tatsächlich ein paar Gruftis aufgegabelt!“, fluchte ich vor mich hin und schaute mich Hilfe suchend im Raum um, aber es gab kein Entrinnen, und so setzte ich ein freundliches Lächeln auf und ging zwischen den Tischen und Stühlen hindurch auf Roxy zu, die mir eifrig winkte.

„Da bist du ja! Ich dachte schon, du kommst nicht mehr. Joy, das hier sind Arielle und Tanya. Sie sind beide Hexen.“

Mein Lächeln entglitt mir ein bisschen, als ich Tanya, die mir am nächsten saß, höflich begrüßen wollte. Sie betrachtete jedoch meine Hand, die ich ihr reichte, als befürchtete sie, ich könnte Lepra haben, sah mich sauertöpfisch an und stufte mich als ihrer Aufmerksamkeit unwürdig ein. Gruftis, die größten Wichtigtuer der Unterwelt! Was wären wir ohne sie?

„Also, eigentlich gehe ich noch bei Tanya in die Lehre“, sagte die Frau, die Arielle hieß, stand auf und beugte sich über den Tisch, um mir die Hand zu schütteln. Sie hatte einen leichten slawischen Akzent, gemischt mit einem starken französischen. Ihre freundlichen blassblauen Augen bildeten einen hübschen Kontrast zu dem feindseligen Blick ihrer Begleiterin. „Ich bin noch keine Hexe, aber ich hoffe, dass ich in ein paar Jahren ebenso viel Macht besitze wie meine Schwester.“

„Deine Schwester?“, fragte ich und setzte mich Roxy gegenüber auf den freien Stuhl.

„Sie sind Schwestern“, erklärte Roxy eilfertig und lächelte Tanya an, die ihr jedoch keine Beachtung schenkte. Die Frau ließ ihren Blick durch den Raum schweifen und schaute immer wieder zu den Fenstern und zur Tür. „Ich habe dir ein Bier bestellt. Es ist ein dunkles, ich hoffe, das macht dir nichts aus.

Etwas anderes trinken die hier anscheinend nicht.“

Roxy schob einen großen Krug über den Tisch. Die Tschechen mussten Blasen aus Stahl haben, dachte ich, wenn sie es schafften, sich regelmäßig solche Mengen einzuverleiben.

„Du glaubst nicht, wo Tanya und Arielle arbeiten!

Auf dem Gothic-Markt! Ist das nicht super!? Arielle hat gesagt, da gibt es alle möglichen Attraktionen: Wahrsager, die einem aus der Hand lesen oder Tarotkarten legen, ein Medium, einen Zauberer und jede Menge Vampire.“

Ich verschluckte mich an dem dunkelbraunen Bier, von dem ich in dem Moment einen vorsichtigen Schluck getrunken hatte, konnte aber gerade noch verhindern, dass es mir in die Nase stieg.

„Wie bitte?“, fragte ich und leckte mir den Schaum von der Oberlippe.

„Vampire!“, sagte Roxy begeistert. „Jede Menge! Ist das nicht aufregend?“

„Jede Menge“, wiederholte ich und schaute von Roxy zu Tanya, dann zu Arielle. „Wie viele denn genau?“

Ich war zwar neugierig auf die angeblichen Vampire auf dem Markt, aber eigentlich überraschte es mich nicht, dass sie sich dort herumtrieben. Eine Freundin von mir hatte einmal einen kurzen Flirt mit der Gothic-Szene von San Francisco und sie erzählte mir, dass Vampirimitatoren gerade schwer angesagt waren. Manche von ihnen fuhren das volle Programm und ließen sich die Eckzähne künstlich verlängern, tranken Tierblut, das sie sich im Schlachthaus besorgten (was offenbar öfter vorkam, als ich mir vorstellen wollte), und lebten generell wie echte Vampire, nur ohne untot zu sein.

„Dominic und Milos, die Organisatoren des Gothic-Markts, sind Vampire“, antwortete Tanya mit rauer Stimme und starkem Akzent. Sie sprach das Wort „Vampire“ so affektiert aus, dass mir, wie immer, wenn ich so etwas hörte, die Zähne wehtaten.

„Tatsächlich? Ist ja interessant“, sagte ich heiter.

„Die beiden scheinen ja sehr geschäftstüchtig zu sein. Ich dachte eigentlich , Vampire müssten kein Geld verdienen, aber vermutlich sind die Preise für schwarze Umhänge und Zahnkronen gestiegen.“

Tanya durchbohrte mich mit einem Blick aus ihren schwarz umrandeten Augen, der wesentlich mehr Eindruck auf mich gemacht hätte, wenn ihre Pupillen nicht stark erweitert gewesen wären. Drogen, keine Frage, dachte ich. Mir war zu Ohren gekommen, dass halluzinogene Mittel bei Gruftis besonders beliebt waren, da sie damit ihre Empfänglichkeit für Visionen zu verbessern glaubten. Aber sicher doch ...

„Wir sind insgesamt fast zwanzig auf dem Markt“, sagte Arielle rasch. „Wir reisen durch ganz Europa.

Dominic teilt den Gewinn unter uns auf und behält nichts für sich und Milos ein.“

„Aha.“ Ich nickte und damit war das Thema für mich beendet. Ich verspürte eine gewisse Anspannung, die ich darauf zurückführte, dass ich in einem fremden Land mit ein paar extrem merkwürdigen Leuten an einem Tisch saß.

Ich schaute wieder aus dem Fenster und mein Blick wurde von den dunklen Bergen angezogen, deren Konturen allmählich mit dem Abendhimmel verschmolzen. Irgendwie fühlte ich mich komisch, aber ich wusste nicht, warum. Nachdem wir bereits eine Woche in Frankfurt gewesen waren, hatten Roxy und ich uns längst an den Zeitunterschied gewöhnt, also konnte es daran nicht liegen...

Roxy schaute auf ihre Uhr und fragte Arielle, wann der Markt begann.

„Eine Stunde nach Sonnenuntergang“, entgegnete sie mit einem zaghaften Lächeln. Sie war wirklich süß. Es war einfach zu schade, dass jemand sie dazu überredet hatte, sich die Haare so langweilig schwarz zu färben und sich mit viel zu viel Schminke zu verunstalten. Ich schätzte sie auf ungefähr siebzehn und hoffte, dass es nur eine Phase war, die sie schnell hinter sich lassen würde.

„Gut, dann gehen wir gleich nach dem Essen hin, nicht wahr, Joyful?“

Mein Unbehagen wuchs. Ich schaute wieder hinaus zu den Bergen. Was wollten sie mir nur sagen?

„Hmm? Klar, wenn du willst. Wir können uns den ganzen Hokuspokus ja mal ansehen. Wir lassen uns aus der Hand lesen, schauen uns die Zaubershow an und jagen ein, zwei Vampiren einen Holzpflock ins Herz.“

Joy!“

Tanya riss die Augen auf und blähte die Nasenflügel, was mich sehr an ein Pferd erinnerte, aber das behielt ich lieber für mich. Ihre Fingernägel waren lang und spitz und schwarz lackiert. Es war gut möglich, dass sie die Spitzen in Gift getaucht hatte.

„Sorry!“ Ich setzte als Friedensangebot ein Zahnpastalächeln auf, das Tanya jedoch nur mit einem ungehaltenen Schnauben quittierte. Erneut wanderte ihr Blick zur Tür.

Ich beschloss, es bei Arielle zu versuchen. „Wolltet ihr nur etwas trinken, bevor der Markt aufmacht, oder habt ihr Lust, etwas mit uns zu essen? Der Hotelchef hat gesagt, der Kneipenfraß hier ist ziemlich gut.“

„Kneipenfraß?“ Arielle blickte verständnislos drein.

„Das Essen, das hier serviert wird“, erklärte Roxy rasch und sah mich warnend an. „Ihr könnt euch uns gerne anschließen. Uns interessiert sehr, was ihr über den Markt zu erzählen habt, und natürlich, wie es ist, mit zwei Vampiren zusammenzuarbeiten.“

Ich verdrehte unwillkürlich die Augen.

„Wir haben schon zu Abend gegessen“, sagte Arielle rasch und sah nervös zu ihrer Schwester. „Wir warten hier nur auf die Männer. Wir treffen uns immer an einem öffentlichen Ort, bevor es losgeht.

Dominic sagt, das macht Eindruck auf die Leute und dann werden sie neugierig auf den Markt.“

„Vermutlich dient es aber auch der Vorauswahl.“

Auf Arielles verdutzten Blick hin erklärte ich: „Du weißt schon, dann haben sie einen guten Überblick über den örtlichen Bestand an Blutspendern.“

Arielle lachte gequält und schaute wieder besorgt zu Tanya hin. Roxy lächelte sie unaufhörlich an und hielt nur kurz inne, um mir erneut einen warnenden Blick zuzuwerfen, den ich jedoch ignorierte. Dann plauderte sie begeistert mit Arielle über die Attraktionen des Marktes, über ihren Job (sie legte Tarotkarten) und darüber, wie schön es war, Europa zu bereisen, während ich die ganze Zeit zappelig und nervös dasaß. Das merkwürdige Gefühl, dass etwas Unheilvolles auf mich zukam, wurde immer stärker.

Plötzlich sah ich vor mir, wie eine schattenhafte Gestalt durch den Wald pirschte, und nahm den Geruch von Kiefern so intensiv wahr, dass es mich in der Nase kitzelte.

Ich blinzelte, um das Bild zu vertreiben, rieb mir den Nacken und versuchte, mich auf Arielle zu konzentrieren.

„... war sehr schön, aber kaum waren wir dort angekommen, gab es einen grausigen Mord im Nachbarort und die Heidelberger Polizei sperrte einen Tag lang sämtliche Straßen.“

„Oh, ein Mord“, raunte Roxy. „Wie aufregend! Hat euch die Polizei in die Mangel genommen?“

Mit einem Mal ergriff mich eine düstere Vorahnung, die so intensiv war, dass mir fast die Luft wegblieb.

Ich sah mich um und versuchte festzustellen, ob mich jemand beobachtete - vielleicht löste das diese Beklemmung bei mir aus - , aber niemand schaute in unsere Richtung. Womöglich war ich einfach nur müde von der langen Zugfahrt.

„In die Mangel genommen? Na ja, sie wollten wissen, ob wir die Ermordete vorher schon mal gesehen haben.“ Arielles Stimme wurde immer leiser und sie spielte verlegen mit ihrem Bierglas herum.

„Und kanntet ihr sie?“, fragte Roxy gespannt.

Arielle schluckte und hielt ihren Blick gesenkt. „Ja, sie war ein paar Tage zuvor auf dem Markt gewesen“, sagte sie, ohne aufzusehen. „Ich hatte ihr die Karten gelegt.“

„In der Woche sind wahnsinnig viele Leute auf den Markt gekommen, Arielle“, erklärte Tanya schroff.

„Ich habe dir doch schon gesagt, dass du dich nicht schuldig fühlen musst!“

„Aber ich habe die Gefahr nicht vorausgesehen“, begann Arielle zu wimmern und in ihren blassblauen Augen standen plötzlich Tränen. „Ich habe es nicht erkannt. Ich habe gar nichts gesehen und ließ sie ohne jede Warnung gehen!“

Tanya beugte sich vor und Roxy drückte sich gegen die Lehne ihres Holzstuhls, um ihr Platz zu machen.

„Du ... hast ... nichts ... Unrechtes ... getan!“ Die Worte klangen wie Peitschenhiebe und lenkten mich für einen Augenblick von dem bedrohlichen Gefühl ab, von Finsternis umhüllt zu werden.

„Ich weiß, das hast du schon oft gesagt, aber ich hätte es kommen sehen müssen ...“ Arielle nahm ihre Serviette und trocknete ihre Tränen.

Tanya schnauzte ein paar Sätze in einer Sprache, die ich nicht verstand. Was immer sie gesagt hatte, es zeigte Wirkung: Arielle nickte, murmelte eine Entschuldigung und fasste sich wieder. Roxy begann sofort, sie zu trösten, legte einen Arm um die junge Frau und tätschelte ihr beschwichtigend die Schulter.

„Man lernt wirklich nicht jeden Tag jemanden kennen, der einem Mordopfer die Tarotkarten gelegt hat!“, bemerkte ich heiter, erntete für meine Bemühungen jedoch wieder nur giftige Blicke von Roxy und Tanya.

„Es war ja nicht nur die eine“, sagte Arielle und putzte sich die Nase. „In Le Havre wurde eine Frau ermordet, kurz nachdem wir abgereist waren, und vor drei Monaten eine in Bordeaux - weißt du noch, Tanya? Sie hatte in der Woche davor einen Liebestrank bei dir gekauft. Wir haben ihr Foto in der Zeitung gesehen. Sie war das letzte Opfer, doch dann kam Heidelberg.“

Der Raum versank in einem grauen Strudel und ich sah plötzlich erstaunlich klar das Bild eines Mannes vor mir. Er war schwarz gekleidet, seine Gesichtszüge blieben im Dunklen, während er mit langen, energischen Schritten durch einen finsteren Wald wanderte. Der Wind pfiff ihm um die Ohren und er wurde von einem inneren Drang angetrieben, den ich nicht richtig einzuordnen wusste. Es zog mich zu ihm hin, dann wurden wir eins, bis ich sogar spürte, wie das Blut durch seine Adern strömte und sein Atem durch seine Lippen entwich. Er marschierte mit einer Arroganz auf die Stadt zu, die von einem jahrhundertelangen Dasein zeugte. Ich sah mit seinen Augen die Lichter der Stadt hinter den Kiefern aufblitzen, und als sich sein Atem beschleunigte und er die Luft tief einsog, um die Gerüche der Stadt einzufangen, atmete auch ich schneller. Die Bilder strömten von seinem Kopf in meinen. Er dachte an Menschen, an warme, lebendige Menschen, von deren Blut eine Verlockung ausging, dem er nicht widerstehen konnte. Er sprang über einen Entwässerungsgraben und erklomm behände und kraftvoll einen Hügel am Stadtrand. Seine Muskeln und Sehnen bewegten sich anmutig und effizient. Der Geruch von Blut stieg uns immer deutlicher in die Nase und ließ uns das Wasser im Mund zusammenlaufen. Ich wusste aus unserer Erinnerung, welch herrliches Gefühl es war, wenn das Blut warm und süß unsere Kehle hinunterrann ...

„Joy!“

Ich schreckte auf und die furchtbaren Gefühle verschwanden. Aber jetzt war mir übel und ich zitterte und musste mich am Tisch festhalten, denn es drehte sich alles. Das Gefühl ähnelte dem ein paar Wochen zuvor bei Miranda, nur hundertmal stärker, tausendmal furchtbarer. Diesmal hatte ich den Mann nicht nur gesehen, ich war mit ihm verschmolzen, war ein Teil von ihm geworden und hatte ihn auf der Jagd begleitet. Ich war völlig durcheinander.

Unzählige Fragen schossen mir durch den Kopf, vermischt mit Mirandas Warnungen. Doch aus dem ganzen Chaos kristallisierte sich schließlich eine Frage heraus, die sich ständig wiederholte, bis ich an nichts anderes mehr denken konnte.

Was zum Teufel war mit mir los?

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